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Das Herz eines Baumes. Eine Geschichte zum Nachdenken

Das Herz eines Baumes

Einst beschloss ein Bauer im Harz, einen Baum zu pflanzen, das müsse man nämlich getan haben in seinem Leben, damit es ein erfülltes Dasein wäre.

Wie er den Setzling einer Mispel in die Erde steckte und ihn goss und ihm sagte, dass er ein stolzer und wunderschöner Baum werden würde, da erwachte das Bäumlein zum Leben! Es streckte kichernd seine Wurzeln in die Erde, reckte sich wollüstig gen Himmel, ließ sich von den sanften Winden streicheln, spürte zum ersten Mal, wie die Sonne seinen kleinen Leib wachkitzelte, schmeckte den süßen Regen und fühlte sich mit jeder seiner Poren geliebt. Diese Liebe ließ ihn aufgehen, immer mehr und mehr und der Bauer freute sich darüber, … bis er eines Tages merkte, dass die Mispel schief zu einer Seite wuchs. 

Das war die Sonnenseite, nachdem sich der Kleine begierig dehnte. Auch die Bäuerin meinte, dass ein anständiger Baum so schräg nicht wachsen dürfe, weshalb der Bauer seine Astschere holte und die längeren Äste einfach beschnitt. 

In dieser Nacht weinte das Bäumlein und konnte nicht verstehen, dass es nicht treiben durfte, wie ihm das Herz stand, doch sein Vater, der Bauer, der liebte es ja und musste es schließlich wissen. Also wuchs das Bäumlein mit aller Kraft kerzengerade gen Himmel. „Was ist denn das?“, fragte der Mann nach einiger Zeit, „So unverschämt schnell zu wachsen, das ziemt sich nicht!“, sagte er und schnitt die Spitze kurzerhand ab. 

Diesmal weinte das Bäumlein schon weniger und wuchs, weil man es anders nicht ließ, stoisch in die Breite. Doch auch hier entgegnete die Bäuerin, dass auch der Nachbar finde, dass ein rechter Baum sich zügeln müsse, nicht zu dünn und nicht zu dick werden dürfe, worauf der Bauer wieder zur Schere griff. 

In dieser Nacht hatte unser Baum keine Tränen mehr, wuchs nur noch langsam, eben wie es sich gehörte und ließ auch an den schönsten Tagen trübe seine Blätter hängen … und die Jahre vergingen.-

Einmal kam ein junges Mädchen mit ihrem Vater durch den Garten gelaufen und sah den mittlerweile groß" gewordenen Baum, blieb stehen und sprach:

"Vater, findest du nicht auch, dass dieser Baum traurig aussieht?“-„Dieser Baum heißt Mispel, meine Kleine, aber ob sie traurig ist, kann ich nicht sagen!“, antwortete der Große, der wenig auf die Hirngespinste der Kleinen gab. 

Erst als das Mädchen ganz stumm an seiner Hand mit nach Hause trottete und auch dort noch betrübt am Tische saß, sah er sie wirklich an. Stumm lief da ein Rinnsal salziger Tränen aus ihren großen, rehbraunen Äuglein. Dann begann sie lauter zu weinen, dass man den Baum ganz sicher zu oft beschnitten habe. „Aber es ist doch normal, dass man Bäume beschneidet!“, entgegnete der Vater und setzte hinzu, „Es gibt eben Regeln und niemand darf einfach machen, was er will. Auch du nicht, meine Kleine!“-„

Aber, warum denn nicht!“, schluchzte das Mädchen, „Du hast mich doch lieb?“-„Natürlich liebe ich dich!“, sagte der Vater, nahm sein Töchterlein endlich auf den Schoß, drückte es fest an seine Brust und spürte, wie auch ihm die Tränen kamen. Weshalb man nicht wachsen dürfe, wie man wolle, konnte auch er nicht sagen. Vielleicht ja, weil dann alle spüren würden, dass sie irgendwann in ihrem Leben zu oft beschnitten wurden!

Nach einer ganzen Weile verebbten die Tränen und die Kleine lachte plötzlich auf: „Vater, lieber Vater, ich weiß, was zu tun ist!“ Sie sprang von seinem Schoß und rannte los, rannte so schnell wie sie konnte zum Bäumchen, streichelte ganz vorsichtig dessen knorrigen Stamm (ebenso, wie sie vom Vater gerade gestreichelt wurde) und flüsterte, wieder mit einem Tränlein in ihrem Auge: „Ich hab‘ dich lieb, mein Großer, und werde jetzt öfter nach dir sehen!“–

Zum ersten Mal nach vielen Jahren regte sich das Baumherz aufs Neue, die Mispel erwachte und fragte sich tief in ihrem Innersten, ob das wirklich wahr sein konnte oder sie nur geträumt hatte. Nein, es war kein Traum gewesen, denn von da an kam das Mädchen fast täglich zum Baum, streichelte seine Rinde und sagte ihm, wie schön er war und der Baum, ob ihr’s glaubt oder nicht, der blühte langsam wieder auf.

Enrnommen aus Bäume, heilig & heilsam in Sagen, Mythen & Brauchtum von Carsten Kiehne
BoD - Books on Demand
ISBN 978-3750497795